Glaubt man Plinius dem Älteren, so ist die Entstehung der Malerei einer gleichwohl romantischen wie
tragischen Begebenheit zu verdanken. In seiner "Naturalis Historia" erzählt er die Geschichte von
einer jungen Frau, die den Schatten ihres Geliebten an der Wand festhält – kurz bevor dieser für
immer entschwindet.
Jahrhunderte später schreibt der Kunsthistoriker Ernst Gombrich: "So sehr die Schatten nachweislich
den simplen Gesetzen der Optik gehorchen, ihre Erscheinung hat dennoch etwas Flüchtiges an sich.
Sie sind ein Teil unserer Umwelt, doch mal sind sie da, mal sind sie entschwunden und erweisen sich
insgesamt als flüchtig und wechselhaft, wie jeder Maler weiß, der ihre Erscheinung auf die Leinwand
zu bannen suchte." (1)
Auf Leinwand oder Papier gebannt, manifestiert der Schatten umgekehrt den Realismus abgebildeter
Objekte. (2)
Wie er andererseits täuschen kann, zeigt sich nicht nur in Platons Höhlengleichnis, sondern
auch in den beliebten Schattenspielen, bei denen etwa bellende Hunde mit den Händen nachgestellt
werden.
Die Beziehung zwischen Gegenständen und ihren Schatten, zwischen Materiellem und Immateriellen
ist also eine komplexe, die zwischen Sein und Schein schwankt und seit der Erfindung der Fotografie
– die ja nichts als Schatten abbildet - vor allem den Umgang mit den sogenannten neuen Medien
definiert.
Dass das fotografische Abbild nicht zwingend wahrheitsgetreu ist, allerdings aufgrund dessen
Realitätsanspruchs umso leichter manipulativ eingesetzt werden kann, entdeckte man früh. (3) Vor allem die Computertechnologien haben allerdings die Manipulierbarkeit von Bildern erleichtert, legen sie
sogar nahe – was dem Großteil der Medienkonsumenten auch bewußt sein dürfte. (4) So werden bereits im Fotolabor farblich missglückte Fotos korrigiert, Programme wie Photoshop retuschieren
Gesichtsunreinheiten und sonstige Mißliebigkeiten. Oder errechnen per Mausklick Schatten und
Schattierungen, die sich nicht einmal auf einen Gegenstand beziehen müssen, sondern einfach so
vorhanden sein können. Schatten, die von nichts geworfen werden.
In ihren Serien "Shadings" und "Waves" malt Gabi Mitterer nach der Vorlage von digitalen Bildern in Rosa- und Blautönen Schattierungen, die aus dem Nichts zu kommen scheinen, in den
unterschiedlichsten Verläufen: Diagonal- und Vertikal-, Horizontal- und Radialschatten. Wie der
Schatten in der Naturalis Historia von Plinius ist der Schatten des Computers ein flüchtiger, die
Realität seiner Bilder ist variabel: Je Einstellungen und Druckpapier sieht das am Ende analoge Bild
jeweils anders aus, genauso wie der Schatten je nach Einfallswinkel und Projektionsfläche ein anderer
ist. Trotz aller struktureller Unterschiede bestehen also gewisse Verwandschaften zwischen dem
Schatten und dem digitalen Bild.
Die Schattierungen, die Mitterer in wochenlanger Arbeit auf die Leinwand bannt, können mit dem
richtigen Computerprogramm innerhalb von Sekunden erzeugt werden, schnell und exakt. Exakter als
dies in der Malerei möglich ist: Denn obwohl Mitterers Bilder aus der Ferne gesehen tatsächlich den
Eindruck einer Computergrafik erwecken, zeigt sich doch bei näherer Betrachtung der handwerkliche
Produktionsprozess in der haptischen Qualität des Anstrich - eine frecher Kommentar zur Untiefe des
digitalen Bildes. Auch dessen exakt berechnete Pixel können und sollen in ihrer totalen Präzision von
der Malerei nicht umgesetzt werden, sondern ironisieren sie eher. Deshalb spricht Mitterer auch von
einer "Persiflage des digitalen Errechnens."
Ähnliche Themen handelt Gabi Mitterer in ihren "LandShapes" ab: Die Kompositionen aus zwei
horizontal gegliederten Flächen (eine in grün, eine in blau) geben eine grobe Pixelung wieder, die sich
ergibt, wenn ein computergeneriertes Bild immer wieder vergrößert wird. Kurze, breite, abgehackte
Striche entsprechen einem Pixel, das eigentliche Motiv wird verschwommen und unklar, nur die
Struktur tritt hervor. Obwohl es sich eigentlich schlicht um ein Raster handelt, kommt ein Publikum am
Anfang des 21. Jahrhunderts nicht daran vorbei, das Bild von vornherein mit einer Computergrafik zu
assoziieren – ebenso wie auch die anderen beiden Serien. Damit führt uns Mitterer vor, dass unsere
Wahrnehmung nie autonom gedacht werden kann: Immer ist sie bereits bedingt durch unsere tägliche
Medienrealität, und immer sehen wir auch das, was wir bereits wissen. (5)
Die Problematik der Relativität unserer Wahrnehmung und unserer Sehgewohnheiten hat die Kunst
seit jeher durchdekliniert. Vielleicht ist sie heute mehr denn je aktuell. Und auch wenn wir das "wahre
Bild" nie erfassen können, so bleibt es unter anderem die Aufgabe der Kunst, immer wieder dazu
Stellung zu beziehen. Gabi Mitterer, die sich zwischen dem alten Medium Malerei und neuen
Computertechnologien bewegt, wirft dabei essentielle Fragestellungen auf.
Nina Schedlmayer
(1) Ernst H. Gombrich:"Schatten. Ihre Darstellung in der abendländischen Kunst", Berlin 1996, S. 18.
(2) Siehe dazu: Gombrich S. 38.
(3) Beat Wyss erwähnt dazu etwa das Foto von Trotzkij und Lenin, das 1920 aufgenommen wurde und auf dem
ersterer später wegretuschiert wurde. Beat Wyss:"Die Welt als T-Shirt. Zur Ästhetik und Geschichte der
Medien", Köln 1997, S. 55.
(4) "Inzwischen ist aber ein eigentliches ‚Photogate’ eingetreten: Die Fotografie ist als Lügnerin entlarvt, seitdem
sie mit dem Computer zusammenarbeitet. Die vormalige Augenzeugin von Wirklichkeit hat sich von einem
analogen Automaten zu einem digitalen Generator im Dienst der Simulation entwickelt" (Wyss S. 55)
(5) So wurde etwa das Desaster von Nine eleven von vielen Kommentatoren und selbst von Leuten, die
unmittelbar anwesend waren, durch die von Hollywood und CNN gefilterte Brille fast abstrakt, wie ein Film
wahrgenommen. Umgekehrt verwies nicht nur Jean Baudrillard (in einem Vortrag im Wiener Volkstheater am
17.3.2002) darauf, dass die Terroristen auch auf die mediale Verwertung der Katastrophenbilder zielten – was
nur bestätigt wurde von Karlheinz Stockhausens geschmackloser Ansicht, dass es sich bei der Attacke um "das
größte Kunstwerk, das es je gegeben hat" handelt.